Unsinn und Kapriolen: Gedanken zum Buch „Zebras im Schnee”

Das Buch "Zebras im Schnee" von Florian Wacker auf dem Esstisch liegend, daneben weitere Bücher.
Buch „Zebras im Schnee” von Florian Wacker

Vielleicht sollte ich einfach mehr Romane lesen. Geschichten, die irgendwann unmittelbar anfangen, in denen die Charaktere fein ausgearbeitet sind, die detailliert Gefühle und Gedanken beschreiben und auch Gespräche so abgebildet werden, wie sie in Wirklichkeit tatsächlich stattgefunden haben können.

Wenn ich mehr Romane lesen würde, hätte ich vielleicht eine andere Erwartungshaltung an ein neues Buch, wüsste viel mehr, was ich wirklich lesen möchte und am Ende erwarten kann. Dass ich vielleicht mit offenen Fragen zurückgelassen werde, Autoren bestimmte Zeiträume manchmal kurz zusammenfassen (und an anderer Stelle detaillierter ausarbeiten) und dass es gar nicht darum geht, eine abgeschlossene Handlung präsentiert zu bekommen.

Würde ich mehr Romane lesen, könnte ich bei Instagram weniger doomscrollen und mich mal in Ruhe auf eine Sache, aufs Offline-Lesen konzentrieren. In Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie und ständiger “Fear-of-missing-out” (FOMO) konkurriert der Zeiteinsatz immer mit einer gewissen Erwartungshaltung. „Was hätte ich in der Zeit stattdessen machen können?”. Welches Buch möchte ich als nächstes lesen, welches wird vom riesigen Bücherstapel ungelesener Bücher (#tsundoku) befreit und in die engere Wahl genommen? Kurzum: Das Gefühl muss stimmen und die Ruhe muss da sein. Ich bin auch keiner dieser Lesenden, die die Seiten nur so überfliegen und primär unterhalten werden möchten. Mir geht es immer auch um die verwendete Sprache, um die Vorstellungskraft beim Lesen und wie sich der/die AutorIn das alles beim sorgfältigen Formulieren gedacht hatte.

Florian Wackers „Zebras im Schnee” ist so ein Buch, das ich sehr gerne gelesen habe und das gerne auch noch 100-200 Seiten länger sein könnte. Gerade am Ende der Geschichte bleiben einige Fragen unbeantwortet – aber nicht in dem Sinne, dass man als lesende Person ratlos zurück bliebe. Es ist gut so wie es ist, und es hatte wohl auch mehrere Iterationen beim Schreiben erfahren.

Der Autor erzählte in einem Frankfurter Podcast von seinem langen Schreibprozess, und wie er die Hälfte des Buches komplett über den Haufen geworfen hatte, weil es ihn weggeführt hatte von dem, was er eigentlich erzählen wollte. Weg von der Dunkelheit des 3. Reiches und seiner vielen Täter, hin zur Welt der Protagonistin.

Womit ich zum eigentlichen Inhalt komme: Erzählt wird die Geschichte zweier Frauen, die selbstbestimmt im Frankfurt der 1920er / 30er Jahre durchs Leben ziehen, über ihre eigene Kunst Geld verdienen wollen und das alles strukturell alles gar nicht so einfach ist.

Erzählt wird dabei auch vom Frankfurt am Main der 20er Jahre, als die Stadt wie viele andere Städte in der Zeit mit den Menschen aufblühte und sich Ernst May als Frankfurter Städteplaner einen Namen machen konnte.

Ich lebe seit vielen Jahren in Frankfurt am Main und sehe die Stadt spätestens seit unserem Mylius-Spuren.de-Projekt mit ganz anderen Augen. Jeden Morgen laufe ich durch die Schweizer Straße, vorbei am Haus von Ugi und Fridel Battenberg, in dem Max Beckmann während des 1. WK Zuflucht fand. Ich sehe die Fahrgasse, die Garküchen am Kaiserdom, den Verlauf der ehemaligen Judengasse und viele kleine Gassen, die vor der Bombardierung der Stadt hier alle seit dem Mittelalter existierten und diese Stadt ausgemacht haben. Frankfurt war damals eine der flächenmäßig größten Städte!

Über dieses alte Frankfurt, über den alten Glanz dieser Stadt zu schreiben, die jeher mehr in der Gegenwart lebt und weniger an alten Dingen festhält als es in den Hansestädten beispielsweise der Fall ist, war für den Autor also auch ein großer Wunsch, und es ist ihm durchaus gelungen.

Alleine schon das Themengebiet “Neues Frankfurt” birgt genügend Stoff für weitere Bücher und viele Geschichten, und es tut sehr gut, dass es einen Teil der Geschichte ausmacht und so vieles an der Moderne verdeutlicht, die damals auch wirklich gewollt war.

Einhergehend damit ist auch die Stellung der Frau in diesem Frankfurt der 20er und 30er Jahre, und gerade das kommt in diesem Roman sehr schön rüber. Die eine Protagonistin kommt aus einem reichen Elternhaus und kann sich dem Kunststudium widmen; die andere (die Hauptperson) aus einem Arbeiterhaushalt, in dem jede Mark, jeder Groschen umgedreht wird und der großzügige, verschwenderische Lebensstil der Gegenwart erst erlernt werden muss. Alleine schon, dass Frauen studieren und selber für ein Einkommen sorgen dürfen, statt sich systemisch in die Abhängigkeit eines Mannes begeben zu müssen – man könnte direkt meinen, dass wir jetzt 100 Jahre später etwas weiter wären. Nach der Lektüre der Biographie von Ernst Kantorowicz letzten Monat war es eine Wohlat, auch endlich mal wieder über das Leben von Frauen in der Zeit zu lesen. Und sei es nur ein Roman, deren Protagonistinnen nicht wirklich gelebt haben.

Gelebt haben allerdings ein paar andere Nebenfiguren aus dem Roman, die teilweise ergoogelbar sind und der Hauptprotagonistin als Vorbilder galten: Ilse Bing, Ottilie Roederstein, Margarete Schütte-Lihotzky. Gerade Ottilie Roederstein ist meiner Meinung nach einer der wichtigsten Wegbereiterinnen, ohne die es – so glaube ich – auch keinen Max Beckmann in Frankfurt gegeben hätte (da sie die Lehrerin von Ugi Battenbergs malender Schwester Mathilde war).

Und dann gibt es da noch die Sprache: Früher sagten die Jugendlichen nicht  “geil” oder “nice”, sondern verwendeten eine ganz andere Sprache. Weiß man ungefähr, wie die Menschen in den 1920er Jahren gesprochen haben? Wie sie sich ausgedrückt, welche Worte sie verwendet haben? Wenn man Dialoge in einem Buch aus der Zeit liest, dann müssen die Ausdrucksweise und auch die Denkweise bzw. Erwartungshaltung dabei auch zur Zeit passen. Das stimmt hier alles ganz gut, und man hat den Eindruck, dass der Autor gründlich recherchiert und sich ganz genau überlegt hatte, wie er etwas schreiben möchte.

Nur an einer Stelle am Anfang des Buches hatte ich gestutzt, weil im Jahr 1997 von “Internetforen mit historischen Bildern” gesprochen wird und von E-Mail, dabei war E-Mail in Deutschland im Jahr 1997 eher begrenzt vorhanden und Internetforen mit Bildern gab es zu der Zeit allerhöchstens in Form von Newsgroups. Auf der anderen Seite passt es dagegen sehr gut, dass die (nachträglich eingearbeitete) Rahmenhandlung in den späten 1990er Jahren spielt, weil das nun auch wieder fast 30 Jahre her ist und gerade in der Reflektion der eigenen Geschichte deutlich wird, dass eine Erinnerung an die damalige Zeit gar nicht so leicht ist. Vor allem dann nicht, wenn in den Jahren viel gelebt wurde. Und was wurde damals viel geraucht! In den 90er Jahren, aber auch schon in den 30er Jahren. Zigarette hier, Zigarette da. Als ehemaliger Raucher finde ich bemerkenswert, wie selbstverständlich dieser Sucht damals nachgegangen wurde. Als Autor muss man das nicht erwähnen, aber es zeigt ganz deutlich, wie hedonistischer, wie geradliniger früher gelebt wurde. Zigarretten als Symbol der Freiheit, möchte man fast meinen, wenn es nur nicht so falsch wäre.

Gefreut hatte ich mich auch über eine Stelle im Buch, als von “Unsinn und Kapriolen” die Rede war. Das wäre doch ein schöner Bandname, oder?


Florian Wacker: „Zebras im Schnee”
2024, Deutsch, 3804 Seiten, EAN 978-3-8270-1486-3
Erschienen im Berlin Verlag (Piper), 24 EUR

Author: jke

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