Von Posen nach Princeton: Über die Biographie zu Ernst Kantorowicz

Robert E. Lerner "Ernst Kantorowicz"
Robert E. Lerner „Ernst Kantorowicz, eine Biographie”

Als vor ein paar Jahren die Biographie von Robert E. Lerner über den Mittelalter-Forscher Ernst “EKa” Kantorowicz erschienen ist, hatte ich sie mir auf dem Wunschzettel markiert und lange Zeit einen großen Bogen um dieses Buch gemacht.

„Ich lese keine Biographien”, sagte mir einmal ein befreundeter Programmierer, und in unserer hektischen Gegenwart scheint der Rückblick auf vergangene Leben immer mehr etwas Sonderbares zu sein. So wie man sich zum Lesen eines dicken Buches die Zeit nehmen und das Gelesene verarbeiten muss, so regt eine Biographie vielleicht mehr zum Nachdenken an als ein Liebesroman.

Womit ich auch gleich zum Punkt komme, denn zwei Dinge haben sich mir fernab der Migration von EKa und des Kampfes im akademischen Umfeld beim Lesen in Erinnerung gebracht:
1. EKa hatte ständig irgendwelche (bi)sexuellen Liebschaften. Wie schafft man das bitte? Und dann so intensiv. Ich finde das erstaunlich.
2. Es war damals schon auch eine primäre Männergesellschaft, die Seilschaften förderte. Frauen eher als Brief- oder Sexpartner oder Assistentinnen; weniger als diejenigen, die irgendwelchen Austausch auf Arbeitsebene vermitteln konnten. Und doch spielten gerade auch die Frauen eine große Rolle im Leben dieses unverheirateten Dandys, dessen Haltung und Sprüche teilweise sehr extrem und nicht korrekt waren. Man schaudert an manchen Stellen.

Was also verleitet jemanden wie mich, der sonst eher Fachbücher liest, eine solche Biographie bis zum Ende gründlich durchzulesen?

Mindestens drei Gründe:

Der Schreibstil

Die Biographie ist ganz wunderbar unterhaltsam geschrieben und liest sich so gut, dass man die gut strukturierten Kapitel verschlingt. Selbst die anstrengenden Phasen über Stefan George oder die großen Bücher von EKa sind gut strukturiert und richtig platziert. Was vielleicht auch an der sehr guten deutschen Übersetzung des fachkundigen Übersetzers liegen mag, die wohl auch im Gegensatz zum englischsprachigen Original noch um einige Passagen erweitert wurde. Alleine schon für diesen Schreibstil hat sich die Lektüre gelohnt, und ich würde mir wünschen, dass manch andere Biographie in ähnlichem Stil verfasst ist. Es sind ca. 460 Seiten und dann nochmal ca. 100 Seiten Fußnoten. Letztere übrigens auch ein kleiner Wink an EKa, der sich bei seinem zweiten großen Buch über die „Die zwei Körper des Königs” in aufgeblähten, “abschweifenden” Fußnoten verloren hatte. Aber ich sehe das eher als britischen Humor, als Ausdrucksmittel seiner selbst, denn EKa war wohl auch ein Multipotentialit, der eben nicht nur stur linear arbeitete und für seine Quellen breit denken und suchen musste.
Für eine Biographie über einen Historiker (der selber eher Geschichte erzählen als beschreiben wollte) liest sich das Buch genau richtig. Trotz der Eitelkeit von EKa und seines Dandytums, dessen Asche in der Bucht einer Karibikinsel verstreut werden sollte, gehe ich davon aus, dass EKa mit dieser Biographie sehr zufrieden gewesen wäre. Jemand wie ich ist der beste Beweis, dass auch fachfremde Lesende bei der Lektüre Interesse bekunden!

Der ständige Kampf

Die Biographie erwähnt im letzten Satz, dass ihre Anfertigung ob des vielseitigen Lebens unumgänglich gewesen sei – und es erscheint wahrlich folgerichtig. Man muss über solche Leute schreiben, auch und weil sie durch ihre Verhaltensweisen den Geist der damaligen Zeit repräsentieren.

Weltenwanderer, die das Leben in Speis und Trank regelmäßig genossen, durch zwei Weltkriege gekommen sind und eine Teilwandlung ihrer selbst durchgemacht haben. Sowohl in den politischen Ansichten, als auch in dem Output.

Gerade das akamdemische Leben im universären Umfeld wird in dem Buch sehr gut deutlich: Die ständigen Kämpfe um eine gute Festanstellung, Empfehlungsschreiben hier und dort, Kontakte, dazu eine Arbeitsweise, die sich etwas von der Norm unterschied. Ein seltsamer Kauz, möchte man meinen, der es irgendwie zu Weltruhm gebracht hatte, dabei war er doch nur so ein Sohn aus reichem Elternhaus, der vor den Nazis fliehen und sich woanders ein neues Leben aufbauen musste. Der aber irgendwie auch zur richtigen Zeit an den geschichtsträchtigen Orten war und in seinen 68 Lebensjahren womöglich mehr erlebt hatte, als andere es tun.

Kantorowicz hatte sogar einige Zeit in Frankfurt gelebt, was für mich natürlich ein weiterer Grund war, diese Biographie zu lesen. Frankfurt war in den 1930er Jahren eine lebendige, eine moderne Stadt, in der man als junger Mensch vermutlich gerne leben und arbeiten wollte.

Wer schreibt, der bleibt

Was im Vertragsrecht gilt, hilft auch Autoren: Beim Lesen der Fußnoten in der Biographie wird deutlich, auf welch Vielzahl von zeitgenössischen Dokumenten sich der Autor verlassen konnte. Wie viele Briefe, Briefwechsel vergleichweise erhalten geblieben sind und welche Annahmen und Befindlichkeiten sich aus diesen Worten rekonstruieren lässt. Klar, es ist die Aufgabe eines Biographen, gerade diese wertvollen Quellen durchzuarbeiten und daraus über vergangene Zeiten zu schreiben. Alles hilft! Jede kleine Erinnerung, Annahme, Befindlichkeit, Eindruck, Rückmeldung von Zeitzeugen und deren Kindern. ABER! – und das ist der eigentliche Punkt – früher wurden mehr Briefe geschrieben. Früher war das alles möglich, weil EKa seine Gedanken aufschrieb und seinen Freunden (m/w) mitteilte. Von Anfang an. Schon als junger Soldat während des ersten Weltkrieges bis ins hohe Alter kurz vor seinem Tod.

Wie sähe es dagegen heutzutage aus? E-Mails, SMS, WhatsApp Chat, flüchtige Bildchen und Befindlichkeiten, die irgendwie und irgendwo (teilweise) anonym veröffentlicht werden und sich im Nichts verlieren. Über unsere Generation werden diese Biographien nicht mehr möglich sein. Weil einerseits die dauerhaften, aufgeschriebenen Quellen fehlen, und andererseits in dieser Aufmerksamkeitsökonomie einfach niemand mehr die Zeit und das Interesse haben wird, das Leben einer anderen Person so intensiv zu verfolgen. Vielleicht in wenigen Ausnahmefällen, und vielleicht mehr an den Außenerfolgen orientiert, weniger am Scheitern im Detail, wie es in dieser Biographie über EKa öfter der Fall ist.

Ein gutes Buch, das ich gerne gelesen und sogar meiner Mutter stellenweise daraus vorgelesen hatte. Bücher erweitern oft den Horizont und können dabei helfen, die damalige Zeit besser zu verstehen. Gerade die (aus meiner Sicht schwer zu ertragende) Verherrlichung von Stefan George wird in einem erträglichen Maße detailiert beschrieben und dadurch leichter verständlich. Auch dass der Autor selber die beiden großen Werke EKas (“Kaiser Friedrich der Zweite”, “Die zwei Körper des Königs”) nicht in ihren Inhalten, sondern eher deren Entstehung und Wirkung beschreibt, passt gut zum Rest der Biographie.


Lerner, Robert E. / Gruber, Thomas: „Ernst Kantorowicz : eine Biographie”
2020, Deutsch, 553 Seiten, ISBN 978-3-608-96199-7
Erschienen bei Klett-Cotta, 48 EUR

Author: jke

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