Wenn man seine (biologischen) Eltern kennt und sogar die Vorfahren ein paar Generationen zurückverfolgen kann, dann ist das keine Selbstverständlichkeit und sicherlich auch keine Notwendigkeit in der heutigen Zeit. Gelebt wird im hier und jetzt, es wird für die Zukunft geplant. Herkunft und Abstammung spielen in einer globalisierten Welt immer weniger eine Rolle, was oftmals auch ganz gut ist, manchmal aber auch hinderlich. Allein, für die eigene Identifikation mag das Thema noch eine Rolle spielen, aber selbst das kann unterschiedlich ausgelegt werden. Für mich als Third Culture Kid (TCK) ist der derzeit diskutierte Heimatbegriff immer wieder eine unbeantwortete Frage. Vielleicht ein Ort, an dem das Herz hängt. Sofern man es mit einem Ort verbinden möchte.
Für Menschen wie mich ist es interessant, die Geschichten der Vorfahren zu erfahren und nachzuforschen, ob man den eigenen Stammbaum noch weiter zurückverfolgen kann. Ich möchte wissen, was das für Menschen früher waren, was sie gearbeitet haben, wo sie gelebt haben, wie sie wohl gedacht haben, welche Werte ihnen wichtig waren, womit sie sich identifiziert haben und wofür sie geliebt haben. Freilich, auf all diese Fragen wird es niemals eine Antwort geben, aber sie erklären ungefähr meine Motivation hinter meinen laienhaften, genealogischen Entdeckungen in den letzten Jahren. Einen Teil der Familie kann ich zum Beispiel bis ins 14. Jahrhundert in einer alteingesessenen Familie in Göttingen verorten. Wenn ich alle Stammbäume zusammenrechne, komme ich auf ein sehr deutsches Bild, das ich irgendwo in “Mitteldeutschland” verorten würde. Und das bei mir, wo ich doch länger im Ausland gelebt habe und Jahre brauchte, um hier einigermaßen heimisch zu werden.
Heimat auch als Ort, den man verlassen kann, damit man neue Orte entdeckt.
Ich gehe davon aus, dass man früher nicht so sehr herumgereist ist und sein ganzes Leben überwiegend in einem Umkreis von ca. 100km absolviert hat. Wenn man also ständig an einem Ort ist, dann heiratet man lokal eine Person aus dem Nachbarort und ist auch sonst in allem anderen sehr mit seinem Ort verbunden. Nicht jeder konnte Pfarrer oder Gelehrter werden, gar studieren oder in eine größere Stadt ziehen (und mit diesen Berufen und Perspektiven ortsunabhängiger leben). Auch konnte sicherlich nicht jeder Landwirt sein. Diejenigen aber, die dann Land hatten und es auch bestellten, lebten wohl ganz anders, waren viel abhängiger von ihrem Land und dem Machtgefüge um eben jenes. Fürs Denken bezahlt werden – dafür muss auch erstmal der Rahmen existieren. Dorflehrer auf dem Dorf zu sein, sicherlich keine leichte Berufung in einer Welt, die eher physikalische als intellektuelle Dinge schätzt.
Trouvaille
Vor ein paar Jahren fuhr ich mit meiner Mutter an einem Sonntagnachmittag spontan zu einem Ort, den wir schon längst aufgegeben hatten. Ein altes Sanatorium in der Nähe von Bremen, das einer meiner Urgroßväter vor dem ersten Weltkrieg als Nervenheilanstalt aufgebaut hatte. Auf so eine Idee (an so einem abgelegenen Ort) muss man erstmal kommen. Aber anscheinend gab es dazu Bedarf und zahlende Gäste. Der Urgroßvater verstarb später an der WK1-Front, das Anwesen wurde verkauft, später wurde es ein Gefangenenlager für Soldaten und in den 1930er Jahren an den Landwirt verkauft, dem es heute noch gehört. In 2012 schrieb ich hier darüber, der Besuch vor Ort war eine sehr schöne Zeitreise in die Vergangenheit. Wenn man beispielsweise ein Foto von früher hat und die heutige Besitzerin das gleiche Foto in ihrem Flur hängen hat, dann schließt sich der Kreis irgendwie und man empfindet eine Art Glückseligkeit, das alles seinen Lauf nimmt und uns die Dinge alle überleben werden.
Ein ähnliches Gefühl hatte ich heute auf dem Friedhof in Chcebus.
Chcebus ist ein kleines Dorf, ca. 60 km nördlich von Prag gelegen und hieß früher wohl auch mal Zebus. Es wohnten dort nicht immer nur Tschechen (Böhmen), sondern auch deutschsprachige Siedler, die ihre eigene Kultur gepflegt haben. Das Dorf ist heute teilweise sehr heruntergekommen, es wurde wohl in den letzten Jahren auch mal als Schauplatz für einen WK2-Film verwendet. In der Mitte des alten Dorfkerns gibt es ein altes Rathaus, eine alte Schule, eine relativ hohe, alte, verfallene Kirche und einen sehr großen, verlassenen Bauernhof mit abbruchreifen Gebäuden. Bei Google Maps kann man die Umgebung anschauen, es ist alles schon sehr kaputt und da ist es ein Wunder, dass der Rest des Dorfes teilweise modern erhalten ist.
In einem der gut gepflegten, älteren Häuser hat wohl vor ca. 150 Jahren ein Teil meiner Vorfahren gelebt und dort als Sattlermeister gearbeitet. Ein Sohn wurde später “Direktor am Steueramt”, mein Urgroßvater. Seine Tochter heiratete dann einen promovierten Philologen und es war dann wohl eine Besonderheit, dass die Tochter “einen Dr.” heiratete. Jahre später und nach verschiedenen beruflichen Stationen in der Region wurde die Familie dann wie so viele andere auch aus ihrer alten Heimat vertrieben und musste sich eine neue Heimat suchen. Der Verlust der alten Heimat, die beschwerliche Flucht, alles keine leichten Voraussetzungen, um woanders neuen Mut zu fassen. Gerade hier in Hessen und in Bayern gibt es wohl viele, deren Vorfahren eine ähnliche Vorgeschichte durchgemacht haben. Vor diesem Hintergrund übrigens ist es für mich auch selbstverständlich, dass Flüchtlingen immer geholfen werden muss und sie niemals aus Freude am Reisen diese Umstände auf sich nehmen. Ohne die Vertreibung wären wir alle nicht hier; ohne den Zwang etwas Neues zu schaffen, wären viele wohl in ihren kleinen Dörfern geblieben.
Auf dem Friedhof in Chcebus also liegen mein Ururgroßvater und noch weitere Verwandte, begraben lange vor dem 1. Weltkrieg, der die Welt so nachhaltig verändern und Familien entzweien sollte. Es ist ein sehr schöner Friedhof, der ganze Ort ist hoch gelegen, man hat einen wunderschönen Blick über die Landschaft und außer dem Rauschen des Windes in den hohen Bäumen hört man nix. Der lockere, muffige, moosbewachsene Boden gibt unter den Füßen nach, ein Grab reiht sich neben das andere. Der alte Friedhof ist ca. 135m lang, 45m breit und von einer kleinen Mauer umgeben, die an einigen Stellen aufgebrochen ist. Wann wohl die ersten Gräber entstanden sind und ob die alten Gräber aus der Zeit davor näher an der Kirche lagen? (Eklärung siehe Foto!) Irgendwann in den letzten 300 Jahren muss dieser Ort so attraktiv gewesen sein, dass dort viele Menschen siedelten und Häuser bauten, die auch nach etlichen Jahren noch bestehen und mit deutschsprachigen Inschriften versehen sind. Jetzt ist es ein kleines, unbedeutendes Dorf mit verkommenem Dorfkern, aber was war es vor 150 Jahren?
Auf der einen Seite des Friedhofs gibt es moderne Gräber aus den letzen 50 Jahren, die meisten mit diesen schwarzen Glanzsteinen und eingravierten oder aufgebrachten Bildern, wie es im Osten so üblich geworden ist. Tschechische Namen, die Frauen oft mit der üblichen ~ova Endung. Auf der anderen Seite des Friedhofs dagegen finden sich Gräber aus einer anderen Zeit, alle auf Deutsch geschrieben, mit typisch deutschen Namen und sehr knappen Texten (“Hier ruht Familie XYZ aus Zebus Nr. xx 18xx”). Es ist eine Zeitreise, und wer hier herkommt, sucht gezielt den Friedhof, denn die Straße endet am Friedhof und führt in ein Feld.
Meine 88jährige Tante hat an diesem Ort einen Teil ihrer Kindheit verbracht und schrieb mir auf der Hinfahrt via WhatsApp von einem Geheimweg zwischen diesem Dorf und dem Nachbardorf, an einer Höhle vorbei. Es ist keine langweilige Landschaft, die kleinen Wege und die hügelige Landschaft haben ihren eigenen Reiz und versprechen Vielseitigkeit. Hier möchte ich nochmal hin, Wege ablaufen und mir dabei vorstellen, was die Leute hier wohl früher noch so getan haben außer Ackerbau und Viehzucht.
Und wenn man da am Friedhof steht, in die weite Landschaft über Äcker und Wälder schaut, dann erscheint der Ort absolut vollkommen. Der Friedhof alleine, die Stille dort, der rauschende Wind, der weiche Boden und die alten Steine – all das erscheint dann plötzlich stimmig, vollkommen, glücklich stimmend. Wer hier seine letzte Ruhe findet, der hat sich dafür wohl einen der schönsten Plätze überhaupt ausgesucht. Es bedarf gar keiner weiteren Erklärungen mehr, wieso dieser Ort, dieses kleine Dorf so abseits von der städtischen Welt als Heimat empfunden wurde: Es ist einfach eine schöne Umgebung.
150 Jahre später also nach all den Kriegen, der Vertreibung, der Flucht, der Aufgabe von Besitz und der Angst vor dem Ungewissen, nach all den Jahren, in denen ein Überleben wichtiger war als ein Erinnern: Wenn der Ururenkel dann vorbeischauen kann und sieht, wo die Vorfahren gelebt haben, dann ist das schon ein sehr schöner Luxus. Weil es eben keine Selbstverständlichkeit ist und ich auch dankbar bin, dass wir hier in so einem System leben, in dem ab einer gewissen Zeit Kirchenbücher geführt wurden, über die bestimmte Lebensereignisse festgehalten wurden und dass so ein Ort wie dieser Friedhof in Chcebus so gut erhalten geblieben worden ist. Es könnte ja auch alles ganz anders sein.
Edit:
Im Werk “Der politische Bezirk Dauba” von 1888, das online verfügbar gemacht wurde, stehen einige interessante Dinge über Zebus drin. So zum Beispiel, dass es vor der Kirchentür einen Eingang zur Gruft gibt, oder dass das Schulgebäude 1875 neu gebaut wurde. Auch zur Anzahl der Katholiken, Juden und Protestanten wird eine Angabe gemacht. Desweiteren steht dort auch:
“Die Bewohner von Zebus betreiben überwiegend die Landwirtschaft; außerdem sind 32 Gewerbsleute und neun Handelstreibende, darunter fünf Gemischtwarenhändler, hier angesiedelt. Die Bienenzucht beschränkt sich auf 48 Stöcke.”
Erste Urkunden erwähnen den Ort schon im Jahr 933 – Chcebus ist also schon ein paar Jahre älter. Die meisten älteren Häuser wurden dann also wohl so zwischen 1780 und 1880 gebaut.